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Berührung verboten

Wie das Theater Augsburg seine Inszenierungen in die virtuelle Realität verlegte

Wie das Theater Augsburg VR Brillen nutzt
Wie das Theater Augsburg VR Brillen nutzt
Die Corona-Krise und die damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen haben viele Kulturinstitutionen besonders hart getroffen. Während der ersten Welle konnte man sich in Augsburg Theater an die Haustüre liefern lassen - doch ist das eine langfristige Lösung?

Ich stehe in einem Kirchenschiff. Hohe Spitzbögen laufen über mir zusammen, durch die Fenster dringt kein Licht. Die Atmosphäre ist angespannt, fast ein bisschen bedrohlich – nicht zuletzt wegen den rot angestrahlten Wänden. Vor mir, ein Mann in Kapuzenpulli und Sneakers. „Hallo“, sagt er. „Ist hier irgendjemand der mich noch nicht kennt?“

Nein, hier bin nur ich und ich weiß genau, wer er ist: Das ist Judas.

Ich weiß das so genau, weil „Judas“ der Titel des Stückes ist, das vor mir gerade aufgeführt wird. Oder zumindest wirkt es für mich so, als würde es direkt vor mir statt finden – ich habe nämlich eine VR-Brille auf und befinde mich mitten in einer digitalen Theaterinszenierung. Es fühlt sich sehr persönlich an, so von Roman Pertl, der als Judas in der verlassenen Kapelle steht, direkt angesprochen zu werden. Beinahe unangenehm intim. Ein Effekt, der durchaus beabsichtigt ist und zu großen Teilen natürlich durch die Technik bedingt ist, mit der das Staatstheater Augsburg diese Inszenierung auf die „Bühne“ bringt.

 

Wie macht man Theater, wenn niemand ins Theater darf?

Die VR-Brille, die ich auf habe, lässt es so wirken, als stände ich wirklich in einer Kirche. Ich kann mich zu allen Seiten umschauen, kann auch die Bänke hinter mir betrachten, wenn ich Judas nicht ins Gesicht sehen möchte. Das funktioniert durch die 360 Grad Kamera, mit der der Monolog von Roman Pertl aufgezeichnet wurde. Die Aufnahmen wurden anschließend auf die Virtual Reality Brillen überspielt und konnten während der ersten Welle im April von allen Interessierten online auf der Website des Theaters bestellt und ausgeliehen werden.

Diese Technik ist die Antwort des Staatstheaters Augsburgs auf die Frage, wie man Theater machen kann, wenn niemand ins Theater kommen darf. Für 9,90 hatte man so die Möglichkeit, sich ein Stück Kultur ganz einfach an die Haustüre liefern zu  lassen. Von einer netten Theatermitarbeiterin, die einem eine kurze Einführung in das Headset gibt und dann fröhlich viel Spaß wünscht. Kontaktlos natürlich! Nicht nur den Monolog „Judas“ konnte man sich ganz bequem im eigenen Wohnzimmer ansehen, das Theater Augsburg bot auch eine Balletinszenierung an – bei der man dann selbst Teil des Ensembles war.

 

Neue Aufgaben, auch hinter der Bühne

Die Corona-Krise und die damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen haben viele Kulturinstitutionen besonders hart getroffen. Ideen, wie die Verlegung von Aufführungen in einen virtuellen Raum halten die Branche am Leben. Doch sie sind auch mit einem enormen Organisationsaufwand verbunden.

Victor Schiering ist am Staatstheater Augsburg für die Koordination des VR-Angebots zuständig. Aus seiner Sicht war das Projekt ein voller Erfolg. Auch wenn es dem Theater viel abverlangt hat: „Vor allem am Anfang hatten wir eine große Anzahl an Bestellungen. Damit wir das alles liefern konnten, haben wir das gesamte Personal aus Garderobe und dem Bühnenaufbau eingespannt“. In seinem Büro stapeln sich die Brillen in drei Schränken an der ganzen Wand entlang. Insgesamt 150 seien es zurzeit, auf denen die aufgezeichneten Aufführungen zur Verfügung stehen. An der Wand daneben hängt in großen roten Buchstaben das Hygiene-Konzept: Jede Brille wird vor und nach der Auslieferung desinfiziert und darf ausschließlich mit Handschuhen angefasst werden.

 

 Moralboost statt tragendes Standbein

Dass das Staatstheater mit diesem Konzept so schnell aufwarten konnte hat auch damit zu tun, dass bereits vor der Pandemie eine Digitalsparte in Planung war. Eva-Maria Fürstenberger, die Pressereferentin des Theaters, sieht in der Krise den ungeplanten Startschuss für eine größere Digitalisierung des Theaters. Am Anfang seien viele skeptisch gewesen, vertraut sie mir an, doch mittlerweile sind sogar noch mehr VR-Inszenierungen in Planung.

Dennoch hat die Krise das Schauspielhaus hart getroffen. Und auch wenn es mit den virtuellen Aufführungen vielen anderen Theatern voraus sei, seien die Inszenierungen dennoch eher Moralboost statt tragendem Standbein. „Wir haben zumindest ein paar Schauspieler weiter beschäftigen können“ So Fürstenberger. „Aber viele sitzen eben immer noch in der Zwangspause“. Vor allem die aktuelle zweite Schließung ist dahingehend ein harter Schlag. Nachdem das Staatstheater im Oktober bereits wieder vor Publikum „Orfeo ed Euridice“ inszeniert hatte, in dem die VR-Brillen zusätzlich zum klassischen Bühnenerlebnis zum Einsatz kamen, müssen die Ränge jetzt wieder leer bleiben. Rein digitale Inszenierungen stehen noch nicht wieder auf dem Spielplan.

 

Ist das noch Theater?

Dennoch: Das Konzept im Frühjahr fand großen Anklang und brachte auch neues Publikum zum Theater. Vor allem VR-Begeisterte mit eigenem Headset waren laut Fürstenberger unter den Fans. Aber auch ältere Theatergänger schreckten vor der Technik nicht zurück. Es habe kaum Probleme mit den Brillen gegeben, so Victor Schiering. Die VR-Headsets sind leicht zu bedienen und man musste sie lediglich aufsetzen, um mit der Vorstellung zu beginnen.

Ob das noch Theater ist? Eine schwierige Frage. Für Fürstenberger ist es eine eigene Kunstform, deshalb gibt es jetzt neben dem normalen Theater am Schauspielhaus Augsburg auch eine neue Sparte „VR-Theater“. Wenn es jedenfalls um Emotionen geht, steht die virtuelle Version den realen Inszenierungen in wenig nach. Ich leide mit Judas, der seinen besten Freund verraten hat und jetzt direkt vor mir am Kirchenboden „eine bekannte Geschichte“ von Liebe, Freundschaft und Verlust erzählt. Eine emotionale Verbindung in Zeiten der Kontaktlosigkeit, durch Theater ohne Publikum.

 

 

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